Viele Streiche nachgesagt
Die Emscheraue zwischen Nette, Mengede und Ickern war vor der Regulierung des Flusses und seiner zahlreichen Nebenarme eine Gegend mit einer stark mäandrierenden Emscher und vielen Kolken, aber auch mit vielen schilfbewachsenen Bächen, Teichen und Tümpeln. In einem der großen Teiche lag eine kleine Insel, die mit Sträuchern und Bäumen, Schilf und Wasserpflanzen bewachsen war. In der Tiefe dieses Teiches sollen früher die Marweiber gelebt haben, die beim Mondschein mit ihren Kindern auf die Insel kamen, wo sie mit diesen unter den Bäumen im hohen Gras und Schilf tollten und spielten.
Des Nachts spielten die Marweiber nicht nur mit ihren Kindern, sondern hatten auch die Angewohnheit, mit den im Emschertal heimischen Wildpferden, den „Emscherbrüchern“, oder aber mit den auf den benachbarten Koppeln weidenden Pferden der Bauern Ausritte in die nähere und weitere Umgebung zu unternehmen. Die wilden, teuflischen Reiterinnen durchzogen mit flatternder Kleidung und aufgelöstem Haar Feld und Wald und kehrten wahllos bei einigen Gehöften ein, um hier an Mensch und Tier ihr Unwesen zu treiben. Sie scheuten auch nicht, Siedlungen und Dörfer in der Umgebung aufzusuchen, um auch hier ihr Unheil anzurichten. Nach ihren nächtlichen Ausritten brachten die Marweiber ihre Pferde – zwar abgehetzt und müde – an Ort und Stelle zurück.
Den Marweibern werden in Mengede und Umgebung zahlreiche Untaten zugeschrieben:
Bei einem Bäckermeister in Mengede lebte in einem uralten Haus ein Bäckergeselle in Kost und Logis. Sein Schlafraum war klein und der stinkende Duft der schmutzigen Gasse drang durchs kleine Fenster. Unter dem morschen Fußboden der Schlafkammer lag die Backstube mit ihrer schwülen Wärme. In den frühen Morgenstunden einer sturmdurchbrausten Märznacht öffnete sich die Schlafkammertür und mit schweren Tritten latschte ein Unwesen an das Bett des Bäckergesellen heran. Wie ein Untier mit gewaltigen Tatzen lege sich das unbekannte Wesen auf das Bett und schnürte dem Bäckergesellen den Atem ein. Der Schweiß drang ihm aus den Poren und mit letzten Kräften begann er zu schreien. Der Bäckermeister, der die Notschreie gehört hatte, kam dem Bäckergesellen zur Hilfe. Das Untier verschwand und der Bäckermeister holte den Gesellen zum Kaffeetisch. Dort klärte der Bäckermeister seinen Gesellen auf: „Das Untier war das Marweib. Es kann zu jeder Zeit in der Nacht kommen und dir den Schlaf rauben. Heute kam es als Untier, nächstens vielleicht als altes Weib oder junges Mädchen. Es ist ein böser Geist, dem die Lust zum Quälen bleibt. Stell daher abends die Pantoffeln verkehrt vor das Bett mit den Spitzen zur Tür oder häng einen Wasserkrug vor das Schlüsselloch. Dann verschwindet das Marweib sofort und erscheint nicht wieder!“ Auch ein ehemaliger Schustergeselle aus Nette, der in seinem erlernten Beruf keine Arbeit mehr fand und daher auf der Zeche Germania in Marten die schwere Arbeit eines Bergarbeiters unter Tage aufnehmen musste, wusste viel von Irrlichtern und Erscheinungen auf seinen Wegen zur oder von der Zeche zu erzählen. So standen plötzlich an Stellen, wo am Vortage noch keine Bäume gestanden hatten, verkrüppelte Weidenbäume oder Wacholderbüsche. Auch schwarze Pferde mit pechschwarzen Reitern oder Reiterinnen seinen dicht an ihm vorbeigejagt. Schlimmer noch waren die Irrlichter, die zum einen den falschen Weg wiesen oder zum anderen auch Unglück verkündeten. Als der Schustergeselle seine nächtlichen Erlebnisse seinem alten Meister erzählte meinte dieser: „Das sind die Marweiber! Dagegen hilft nur ein Mittel: Du musst den linken Schuh ausziehen, musst ihn umkehren und ihn dann wieder anziehen und deinen Weg fortsetzen. So kann dir ein von den Marweibern entzündetes Irrlicht nichts anhaben!“
Den Marweibern werden in Mengede und Umgebung noch viele andere Untaten nachgesagt. Insbesondere bei Unwohlsein oder Übelkeit, noch öfter bei Verirrungen auf nächtlichen Heimwegen waren in verschiedensten Erscheinungsformen die Marweiber nach Auskunft der Alten Ursache des Übels. Und die Alten hatten nahezu immer einen banalen Vorschlag, wie man diesem Übel begegnen konnte.
In Ickern lag in der Nähe eines Gehöftes ein tiefer Teich mit Insel. Als die Knechte und Mägde eines Tages ans Wasser gingen, hatten sie einen eigenartigen Anblick. Im Grase lag ein am ganzen Leibe behaarter Knabe, der rau wie ein Hund war. Sie nahmen den Knaben mit zum Hof, um ihn unter der Ofenbank zu trocknen. Als sie am Abend zurückkehrten, war sein Platz unter der Ofenbank leer. Vielmehr fanden sie ihn nach langer Suche hinter einer Hecke in der Nähe des Teiches, wo sie das Marweib erkannten, das den Knaben tränkte mit dem murmelnden Singsang: „Trink, mein Kindchen, trink!“ Von nun an brachten die Leute den Knaben jeden Abend zur gleichen Stelle. Als aber der Knabe größer wurde, glaubten sie, dem Marweib einen Gefallen zu tun, wenn sie ihn vom Haarkleid befreien würden und glatt schören. Da sie bei der Schur aber nur bis zur Hälfte kamen, weil der Knabe pünktlich am Teich abgelegt werden musste, hörten die Leute, wie das Marweib bei Anblick des Knaben zornig wurde und rief:
„Sau ös ji min Kind hebbt schuoren, Is ine Glück up de Stie verloren!“
(„So wie ihr mein Kind habt geschoren,Ist euer Glück auf der Stelle verloren!“)
Dann verschwand sie mit dem Knaben im Wasser und die Marweiber waren seither von niemandem mehr gesehen. Doch: Auf den Gehöften und bei den Bewohnern in unmittelbarer Nähe des Teiches lasteten über viele Generationen entsprechend dem ausgestoßenen Fluch viel Unheil und Unglück.
*Die Marweiber – auch Nachtmaren genannt –
sind dem Aberglauben nach in Wassertümpeln, Kolken und Teichen lebende weibliche Geisterwesen, die sich auf die Brust oder Schulter schlafender oder schlafwandelnder Menschen setzten und Albträume hervorrufen.
Literatur:
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- Schopohl, Fr., Heimatlicher Geisterglaube, in: Heimatblätter für Castrop und Umgebung, Nr. 6/2. Jahrgang 1923 vom 15.06.1923, S. 23-24
- Weitkamp, Fritz, Von unserer Väter Art und Sinnen, Osnabrück 1935
- Zaunert, Paul, Westfälische Sagen, Regensburg 1967
- Kollmann, Adelheid, Sagen aus dem alten Vest und dem Kreis Recklinghausen, Recklinghausen, 1994
- Sondermann, Dirk, Emschersagen, Bottrop 2006