Heimatblätter
Beilage Nr. 19 – April 2022
Mengeder Kneipen- und Discogeschichte(n)
Das Mini-Espresso in Oestrich
Was viele jüngere Mitbürger vielleicht nicht wissen.
Im Bezirk Mengede gab es in früheren Zeiten eine lebendige Disco- und Kneipenszene: Vier Diskotheken, mehrere Pubs und jede Menge Kneipen, sogar Tanzlokale mit Live-Bands. Wer in Oestrich im „Haus Block“ begann und seine Kneipentour im „Handelshof“ beendete, weil er es bis zum „Volksgarten“ nicht mehr schaffte, dabei in jeder Gaststätte, die am Wege lag, nur ein Bier trank, wird wahrscheinlich den ganzen Abend dazu gebraucht haben.
Auf keinen Fall wird er (oder sie) aber nüchtern nach Hause gekommen sein. In loser Folge werden wir nostalgische Rückblicke auf diese Szene werfen, die den einen oder die andere bestimmt auch an die eigene(n) Jugend(sünden) erinnern werden.
Von der Capri-Bar zum Mini-Espresso
In den 60-Jahren gab es in Oestrich auf der Castroper Straße 81 die „Capri-Bar“, ursprünglich wohl als Eisdiele geplant. Sie entwickelte sich mehr und mehr aber zum einem Café und einem Pub, der wachsenden Zulauf bekam. Das lag nicht so sehr am Riesenaquarium mit seinen bunten Fischen mitten im Raum, sondern viel mehr an der gut sortierten Musikbox, die mit den neuesten Schlagern und auch gängigen Ohrwürmern bestückt war.
Diese „Capri-Bar“ wurde Ende der 60-er Jahre von Luigi Nestola und seiner Lebensgefährtin und späteren Ehefrau Helga per Pachtvertrag mit dem Bierverleger übernommen. Wegen der Espressomaschine auf dem Tresen und weil Luigi, wie der Name sagt, Italiener war, wurde aus der „Capri-Bar“ das „Mini-Espresso“. Luigi erkannte mit der Erfahrung durch die Music-Box die verzehr- und damit umsatzbeschleunigende Wirkung der Musik. Etwa zwei Wochen schloss er sein Lokal, es wurde gehämmert und gezimmert, wie zu jener Zeit üblich, viel Holz mit Mahagoni-Dekor verarbeitet. Western-Schwingtüren bildeten den Eingangsbereich, dahinter war die Garderobe, eine Tanzfläche, die die Größe von etwa fünf Tischtüchern hatte, wurde direkt vor den Toiletten angelegt und von farbigen Strahlern beleuchtet. Ein zentraler Tresen mit Hockern, Tische an den Wänden mit gepolsterten Bänken davor, eine Musikanlage mit Pult für den DJ, fertig war die kleine, schmucke Disco, die mit etwa 80 Gästen brechend voll war. Obwohl für die Espresso-Maschine kein Platz mehr war, wurde der inzwischen gut eingeführte Name beibehalten: „Mini-Espresso“, oder, wie alle sagten, „Das Mini“, ein Ort mit Kult-Status.
In den ersten Jahren gab es keinen Ruhetag. Die Öffnungszeiten waren von 18.00 Uhr bis 1.00 Uhr nachts, bei guter Stimmung war bei geschlossenen Türen auch länger geöffnet. Ab 19.00 Uhr legten sich abwechselnde „Disc-Jockeys“ live Platten auf, mit individueller Ansage jedes einzelnen Titels. Da sich die Ausgehgewohnheiten geändert haben, werden Jüngere, die vielleicht erst gegen 22.00 Uhr oder später in eine Disco gehen, die frühen Öffnungszeiten nicht verstehen. Damals galt das Ladenschlussgesetz. Verordnete Schließzeit für die Geschäfte war 18.30 Uhr, einige schlossen aber bereits um 18.00 Uhr. Da war das Mini dann die erste Anlaufstation für die Verkäuferinnen nach Geschäftsschluss. Handwerker, Bauarbeiter, Dachdecker hatten oft schon um 16 oder 17 Uhr Feierabend, überbrückten dann die Wartezeit in einer der zahlreichen Kneipen im Mengeder Raum und fanden sich dann, oft noch in ihrer Handwerkerkluft, bei Luigi und Helga ein.
Attraktive Anreize, Live-Disco und Hitparaden
Für die Wochentage gab es Anreize wie Sonderpreise an bestimmten Tagen für einzelne Getränke, und jeden Donnerstag die beliebte Hitparade mit den aktuellen Hits. Die Gäste stimmten ab, und die Stimmkarten waren gleichzeitig Lose für die anschließende Verlosung. Da konnte man Spirituosen oder Wein gewinnen, die durften allerdings erst zu Hause verzehrt werden. Ich war damals an Anfang der 70-er Jahre gelegentlicher Gast im Mini. Mir fiel auf, dass dienstags noch eine Programmlücke bei den Mini-Angeboten war. Zu der Zeit gab es im Rundfunk, damals noch WDR 1 und WDR 2, (WDR 4 kam erst 1984 dazu) eine Nostalgiewelle mit Oldie-Schlagern. Ich schlug Luigi vor, doch noch zusätzlich eine Oldtimer-Hitparade anzubieten. Ich meinte, dass einer seiner DJs, Jürgen, (der sich „Joint“ nannte) oder Werner das übernehmen könnten. „Mach du das doch“, schlug Luigi vor. Ich bat um Bedenkzeit und sagte nach dem fünften Pils, das seinerzeit 80 Pfennig kostete, noch am gleichen Abend zu.
Thomas, Lothar, Ralf und Rolf, die sich auch ein Taschengeld nebenbei verdienen wollten. Ich war damals noch Student, und konnte die anfangs 20, später 30 und dann 50 Mark gut gebrauchen. Bei der letzten Erhöhung wurde allerdings der freie Getränkeverzehr gestrichen. Was aber nicht ins Gewicht fiel, weil die Mini-Gäste immer großzügig auch die Musikmacher mit bedachten.
Erinnerungen eines Insiders
Für einen Zeitraum von etwa vier Jahren war ich Insider und gleichzeitig
Beobachter der Mini-Szene. Ich sah, wie zarte Bande geknüpft wurden und auch schon mal zur Ehe führten, sah, wie Seitensprünge vorbereitet und Beziehungen zu Ende gingen. Ich erlebte den lautstarken Streit eines Ehepaares an einem Tisch, während der dritte Gast selig seinen Rausch ausschlief. Wo die Streitenden dann rausliefen und dabei sämtliche Getränke umschmissen. Davon erwachte der Schlummernde, sah das Chaos auf dem Tisch, fühlte sich verantwortlich, wollte die Getränke bezahlen und entschuldigte sich für sein Besoffensein. Es gab rauschen Feste, Karnevals in bunten Kostümen ohne Kostümzwang, Sparclubleerungen bei denen Preise verlost wurden, die keiner gebrauchen konnte.
So Günters Hund Albert, der ordentliches Mitglied war und auch Anspruch auf ein Los, aber absolut keine Verwendung für den gewonnenen Handmixer hatte. Ich erlebte Silvesterfeiern, bei denen man sich um Null Uhr bei Jahreswechsel selig in den Armen lag, eine Stunde später in Streit geriet und sich das Gesicht blutig und die Augen blau schlug und sich dann nach einer weiteren Stunde bei der Versöhnung wieder in den Armen lag. Die Geburtstage der Wirtsleute wurden immer zünftig gefeiert. Helga machte Frikadellen und Brötchen, die die Gäste am späten Abend kredenzt bekamen. Einmal hatte Gast Rainer sich schon vor dem eigentlichen Essensangebot reichlich Frikadellen stibitzt, so dass er mit mehrwöchigem Lokalverbot bestraft wurden.
Die Gäste des Mini- eine große Familie
Die Gäste des Mini, 90% Stammgäste, waren so etwas wie eine große Familie. Gruppen fanden sich zusammen und machten gemeinsame Freizeitprogramme, Ausflüge und Reisen. Man ging gemeinsam zu Veranstaltungen in die Westfalenhalle, machte Weihnachtsmarkt- und Westfalenparkbesuche. Mit Helmut Hoffmanns Reisebus ging es nach Volendam und Rotterdam, oder in Eigenregie zum Camping- oder Ferienhauskurzurlaub nach Norddeich. Wirtin Helga bekam häufig Souvenirs mitgebracht. Einmal ein echt ostfriesisches Brot.
Sie wusste aber nicht, dass das wegen des Sturms kurz Nordseewasser aufgesogen hatte. „Wenn ihr wieder zur Nordsee fahrt, bringt mir doch bitte nochmal so ein würziges Brot mit.“, war ihr Wunsch. Wenn ein männlicher oder weiblicher Gast mal nicht genügend Geld mithatte, Deckelmachen war bei Luigi kein Problem. Wusste er doch, dass die Gäste, die auf Kredit tranken, besonders gern auch mehr verzehrten, als sie sich eigentlich erlauben konnten. Gesellschaftliche Schranken gab es nicht, der Friseurmeister trank und redete mit dem Bankangestellten an, der Kranführer mit dem Buchhalter, der Lokführer mit dem Fliesenleger und die Verkäuferin mit der Erzieherin. Ausländer wurden als solche nicht wahrgenommen, waren je nach Betrachtungsweise Kumpel, Freunde oder Saufkumpane. Die Brüder Dante, Ruggiero und Aldo, auf Sardinien geboren, die nahezu jeden Abend im Mini waren, sind nur ein Beispiel für die Vielfalt der großen Mini-Familie.
Toleranz zeigte sich auch im breiten Spektrum der Musik, die gewünscht bzw. gespielt wurde. Da gab es die typische Disco Musik der 70-er Jahre mit Sweet, Slade, New Seekers, Shakin Stevens und Middle of the Road, das gab es Rock-Klassiker von Deep Purple, Jethro Tull, Ike und Tina Turner, den frühen Udo Lindenberg und den späten René Carol. Da folgte auf Samba Pa Ti von Santana auch schon mal ein Tangolied von Gerhard Wendland. Und als Rausschmeißer erklang lange Zeit „Auf Wiedersehn“ mit Rudi Schuricke, bis ein genervter Gast diese Platte mitgehen ließ. Von da ab musste Peter Alexander mit „Feierabend“ in die Bresche springen. Ein Berliner, der nur für einen kurzen Zeitraum Gast war, wünschte sich immer, „Junge komm bald wieder“ von Freddy Quinn. Die Frage, ob er mal Seemann war, verneinte er: „Das hat mir meine Mutter immer geschrieben, wenn ich im Knast war.“ Wenige Wochen später erfuhren wir, dass er erneut verhaftet worden war…
Ende der 70-er Jahre entschieden sich Helga und Luigi, das Mini zu verkaufen. Luigi hatte sich entschlossen, in seine alte Heimat nach Italien zurückzukehren, und Helga, inzwischen seine angetraute Ehefrau, traute sich, ihm zu folgen, obwohl sie kaum ein Wort italienisch sprach. Da sie sich weit im Süden, fast in der Stiefelspitze, ansiedelten, waren die Kontakte zu den Stammgästen weitgehend abgerissen, ab und zu mal ein Telefonat. Lediglich der ehemalige Mengeder Boxer Rudi Druse besuchte sie einmal in ihrer neuen Heimat. Ihr Nachfolger wurde für kurze Zeit Uli Krause, dann wurde aus der „Discothek Mini-Espresso“ „Nina’s Pub“. Aber das wären dann neue Kneipengeschichten.
Diethelm Textoris